Zwischen Mieterschutz und Arbeiterbewegung
In diesem Jahr kann der MieterInnenverein Witten auf eine 90järige Geschichte zurückblicken: Unsere direkte Vorläuferorganisation, der „Mieterschutz-Verein für Witten und Umgegend e.V.“ wurde am 19. Oktober 1919 gegründet. Aus diesem Anlass hat unser Vorstandmitglied, der Sozialhistoriker Ralph Klein, begonnen, in den Archiven zu wühlen.
Über die Gründung unseres Vereins berichtete die „Wittener Volkszeitung“ vom 21. Oktober 1919: „In einer von mehr als 150 Personen besuchten öffentlichen Mieterversammlung im Restaurant Wilhelmslust wurde ein Mieterverein gegründet, dem sich über 100 Personen als Mitglieder anschlossen. Der Referent, Knappschaftsbeamter Krawinkel aus Bochum, sprach über die Notwendigkeit des Zusammenschlusses der Mieter zum Schutze gegen Übergriffe der Hausbesitzer. (…) Nur ein entschlossener Zusammenschluß der Mieter könne eine wirksame Gegenmaßregel gegen evtl. Willkür und Mietsteigerungssucht der Hausbesitzer bilden (…).“
Der „Mieterschutz-Verein für Witten und Umgegend e.V.“ war einer der ersten nach dem Ersten Weltkrieg in Witten überhaupt neu eingetragenen Vereine. Zu seinem Vorsitzenden wurde der Lehrer Josef Lödige gewählt; Lehrer Wilhelm Stehl aus Bommern wurde sein Vertreter, der Ofenarbeiter Fritz Johannings komplettierte den Vorstand.
Der neu gegründete Verein hatte zunächst den Charakter eines Verteidigungsbündnisses gegen die Übermacht der gut organisierten Haus- und Grundbesitzer und wurde überwiegend von Angehörigen des Kleinbürgertums geprägt: Lehrer, Gewerbetreibende, Beamte usw. Damit spiegelte er weder die extreme Wohnungsnot der ArbeiterInnen wieder noch die in diesen sehr unruhigen Zeiten auf den Straßen ausgetragenen Kämpfe um eine sozialistische und demokratische Revolution.
Allerdings waren nicht nur ArbeiterInnen von Wohnungsnot und Vermieterwillkür betroffen. Der Erste Weltkrieg hatte den seit etwa 1880 herrschenden extremen Wohnungsmangel zusätzlich verschärft, wie der Wohnungsbau komplett eingestellt worden war. Es existierte noch kein Mietrecht, das vor Kündigungen und willkürlichen Mieterhöhungen schützte, erst seit 1917 gab es erste massive staatlichen Eingriffe zur Begrenzung der Mietsteigerungen. Überall im Land entstanden in dieser Situation unmittelbar nach Kriegsende neue Mietervereine, die zum Teil Gründungen aus der Vorkriegszeit ersetzten.
Bereits im 19. Jahrhundert war die „Wohnungsfrage“ in aller Munde. Bei den frühen Mietervereinen trafen konservative Ideologien mit der Notwendigkeit zusammen, die Mieterrechte der Kleinbürger gegen die ungeregelte Allmacht der Hausbesitzer zu verteidigen.
Die organisierte Arbeiterbewegung dagegen hatte die ?Wohnungsfrage? lange rechts liegen lassen. Friedrich Engels verspottete die bürgerlichen Bemühungen um die Verbesserung der Wohnverhältnisse der Arbeiterklasse, denn das Wohnungselend war seiner Meinung nach unvermeidbarer Ausdruck der kapitalistischen Verhältnisse. In der marxistisch geprägten SPD herrschte diese Ansicht lange vor. Die Wohnungsfrage könne nur von einem sozialistischen Staat gelöst werden. Gegen dieses Dogma entwickelten sich mit der Zeit Strömungen, die vor allem auch auf der lokalen Ebene pragmatische Zwischenlösungen anstrebten. Die große Masse der ArbeiterInnen aber kämpfte mit dem Wohnungselend notgedrungen ohne jede organisierte Form, weshalb wir über ihre Alttagsauseindersetzungen auch nur wenig wissen.
Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs führte auch im Bereich des Wohnens zu gewaltigen Veränderungen. Die SPD hatte in ihrer Mehrheit den Kriegskrediten zugestimmt und wurde nach der immer offensichtlicher werdenden drohenden Niederlage 1917 von der Obersten Heerleitung in das Regierungshandeln einbezogen. Zu den Notstandmaßnahmen der Kriegsdiktatur gehörten die Einführung einer Altbau-Mietpreisbindung und von kommunalen Mieteinigungsämtern. Dies war notwendig geworden, weil die Grundbesitzer trotz des Krieges die Mieten schamlos erhöhten und die Frauen und Kinder der eingezogenen Soldaten bei jeder Gelegenheit auf die Straße setzten. Die Berichte über diese Verhältnisse demoralisierten die Männer an der Front zusätzlich und behinderten auch den Einsatz der Frauen in der Kriegsproduktion. Die Mieteinigungsämter dienten u.a. als eine Art Schlichtungsstelle bei Streitigkeiten um die Miethöhen, denn den Amtsgerichten fehlte sich noch jede gesetzliche Grundlage dafür.
Unter diesen Rahmenbedingungen schloss unser Wittener Verein die Gründungswelle des Jahres 1919 innerhalb des Provinzialverbandes Rheinisch-Westfälischer Mietervereine ab. Weitere, zunächst selbständige Vereine entstanden in den heutigen Stadtteilen Annen, Bommern, Heven, Rüdinghausen und Durchholz. Sie wurden nach und nach in den Wittener Verein integriert. Jeweils Samstag nachmittags hielt der Verein in einem Raum des Hotels Adler in der Ruhrstraße seine Sprechstunden mit Rechtsberatung ab, weil er sich ein eigenes, dauerhaftes Büro noch nicht leisten konnte. Das war erst Ende 1922 möglich, als auch ein Geschäftsführer eingestellt wurde.
Die Mieterorganisationen wuchsen schnell an. Mit dem starken Zustrom von Mitgliedern wurden auch die sozialen und politischen Gegensätze jener Zeit in die Mieterbewegung hineingetragen, wodurch sie sich politisierten. Von der Aufbruchstimmung und Radikalisierung der Mietervereine wurden die Wittener MieterInnen jedoch erst langsam erfasst. Der Mieterschutz-Verein konzentrierte sich anfangs noch ganz auf die täglichen Wohnungsprobleme und bemühte sich, eine möglichst breite Organisierung der MieterInnen zu erreichen, ohne durch ausdrücklich politische Forderungen mögliche Mitglieder zu verschrecken.
Das änderte sich erst im Laufe des Jahres 1920; nicht zuletzt der reaktionäre „Kapp-Putsch“ im März jenes Jahres und der Reichswehrterror auch in Witten hatten in den Augen eines großen Teils der Bevölkerung die Notwendigkeit einer sozialistischen Republik bewiesen. Ein großer Teil der ArbeiterInnen hatte nach bitteren Erfahrungen jedes Vertrauen in die SPD verloren und unterstützte in Witten vor allem die linke SPD-Abspaltung USPD. Diese vielschichtige und bald an ihren inneren Widersprüchen zerbrechende Partei stand vor allem für eine Sozialisierung der Großindustrie und eine stärkere Betonung direkter Räte-Demokratie.
Ende 1920 gab sich der Wittener Mieterschutz-Verein eine neue Satzung, in welcher sich die damals aktuellen politischen Forderungen und eine gewisse Radikalisierung unmittelbar niederschlugen. Von der Lebendigkeit und der Kampfbereitschaft der Versammlung lässt der Bericht des Wittener Tageblatts vom 3. November 1920 noch etwas ahnen:
„Der Mieterschutz-Verein Witten und Umgegend hielt ( … ) eine außerordentliche General-Versammlung ab. Der äußerst starke Besuch sowie die rege Beteiligung an der Aussprache (…) legte ein beredtes Zeugnis dafür ab, daß die Mehrzahl der Mieter erkannt hat, daß ein lückenloser Zusammenschluß der Mieterschaft unbedingt erforderlich ist und daß zur Wahrung der Mieterinteressen kein Opfer gescheut werden darf. (…) Eine umfassende Aufklärungsarbeit soll in den nächsten Wochen und Monaten einsetzen. Es soll zum Gemeingut aller Mieter werden, daß die Organisation eine große Aufgabe in-nerhalb des Volkes zu erfüllen hat.“
Die Entschlossenheit der MieterInnenbewegung und ihre gewachsene politische Stärke schlagen sich in den Vereinszielen der von Grund auf neu gestalteten Satzung nieder: „Als Hauptziele gelten u. a.: 1. Schaffung eines sozialen Wohnungs- und Siedlungsrechts, 2. Ausbau des Mieterratssystems, 3. Schaffung eines Normal-Miet-Vertrags nach dem bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Bekämpfung des Miet- und Bodenwuchers, 5. Sozialisierung des Wohnungswesens und des Grund und Bodens (… ).“
Die neuen Ziele entsprachen einem sozialistischen wohnungspolitischen Programm, ohne dass dabei die Grundsätze der ersten Satzung („Zusammenschluss aller Mieter“) aufgegeben wurden. Den „Normal-Miet-Vertrag nach dem bürgerlichen Gesetzbuch“ würden wir heute als „soziales Mietrecht“ bezeichnen. Die „Schaffung eines sozialen Wohnungs- und Siedlungsrechts“ weist darüber hinaus und betrifft auch Planung und Wohnungsbau. Der „Ausbau des Mieterratssystems“ entsprach Ansätzen einer Mitbestimmung bei der Umsetzung damaliger wohnungspolitischer Maßnahmen. Sie war aber auch ein Reflex auf die sozialistische Rätebewegung mit ihren Forderungen nach direkter Kontrolle der Produktionsmittel. Und sie kann als Aufruf zur Selbstorganisation der MieterInnen verstanden werden. Die „Sozialisierung des Wohnungswesens und des Grund und Bodens“ schließlich unterstütze direkt die Ende 1920 noch nicht verlorene Auseinandersetzung um eine Wirtschaftsdemokratie. Grund und Boden sollten der Kontrolle der Grundbesitzer entrissen werden. Auch für die „Sozialisierung des Wohnungswesens“ lagen ausgearbeitete Vorschläge vor.
Offenbar war diese Kursänderung für den Lehrer Lödige zuviel, denn er schied aus, das ehemalige SPD-Mitglied Stehl wurde neuer Vorsitzender und Schlosser Emil Höhe dessen Stellvertreter. Damit waren nun zwei Arbeiter im Vorstand, womit signalisiert wurde: der Verein wird mehr und mehr zu einem Verein der Arbeiterschaft.
In den folgenden Jahren arbeitete der Verein erfolgreich an der Konsolidierung der Organisation. Interne Auseinandersetzungen, die sich vor allem um die Person des Vorsitzenden Stehl drehten, und politischer Streit mit der SPD dauerten bis Ende 1922 an. Inzwischen hatte sich der Mehrheitsflügel der USPD mit der SPD wiedervereinigt. Danach konnte der Verein als die Mieterorganisation der SPD gelten
Soziales Mietrecht, basisdemokratische Selbstorganisation, öffentliche Wohnraumversorgung: So könnte man das Programm von 1920 heute zusammenfassen. Erstaunlich, wie ähnlich unsere heutigen Ziele noch sind. Und betrüblich, dass sie auch nach 90 Jahren noch nicht vollständig verwirklicht werden konnten.
Redaktion, MieterInnenverein Witten