Nr. 36


18.000 Arbeitssklaven in Witten  

Bürgerinitiative erreichte Entschädigungszahlungen - Historische Dokumentation in Arbeit

Die öffentliche Auseinandersetzung um eine so genannte Entschädigung für ehemalige ZwangsarbeiterInnen aus dem nationalsozialistischen Deutschland erreichte im Sommer 1999 auch Witten. Eine Bürgerinitiative gründete sich, um die Forderungen der ZwangsarbeiterInnen zu unterstützen. Inzwischen kann ein erstes Resumee gezogen werden.

Während des Zweiten Weltkrieges wurden mindestens 14.000 zivile und etwa 4.000 kriegsgefangene ZwangsarbeiterInnen in Witten ausgebeutet. Sie mussten in circa 40 Industrieunternehmen, mindestens 60 Handwerksbetrieben, einem Dutzend Bauunternehmen, dem Einzelhandel und etwa 40 Landwirten schuften. Hinzu kamen eine unbekannte Zahl von Privathaushalten, die Stadtverwaltung, die Stadtwerke, Krankenhäuser, Reichsbahn und Post.

Etwa die Hälfte aller ZwangsarbeiterInnen stammte aus der ehemaligen Sowjetunion. 
Erste Ansätze zur Auseinandersetzung mit diesem Teil der Stadtgeschichte hatte es bereits 1993 gegeben, als die Stadt Witten eine ehemalige Zwangsarbeiterin der Wickmann-Werke einlud. Zu einer Entschädigung war die Firma damals nicht bereit. Der 1999 gegründeten „Bürgerinitiative gegen Zwangsarbeit“ gelang es, die Auseinandersetzung um die Entschädigung in Witten voran zu treiben. Ein Bürgerantrag im Stadtrat, mit dem eine Zahlung von 15.000 DM je Person an die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen gefordert wurde, blieb zwar erfolglos. Im folgenden entwickelte die BI aber eine rege öffentliche Tätigkeit. 

Im Jahr 2000 mussten Bundesregierung und deutsche Industrie sich dem internationalen Druck beugen und einer (äußerst mageren) Entschädigung zustimmen. Die zu zahlenden Gelder - insgesamt 10 Milliarden DM - erreichen aber noch nicht einmal die Höhe der damals einbehaltenen Löhne der ZwangsarbeiterInnen von mindestens 180 Mrd. DM (auf heutige Verhältnisse umgerechnet). Die Industrie soll die eine Hälfte dieser Summe aufbringen, der Staatshaushalt die andere. Da die Unternehmen ihren Anteil von den Steuern absetzen können, müssen sie letztlich lediglich ein Viertel des Geldes zahlen. 

In Witten traten alle größeren Unternehmen - ausnahmslos Tochterunternehmen großer Konzerne - der Stifterinitiative der deutschen Wirtschaft bei. Besonders hartnäckige Zahlungsverweigerer sind dagegen die mittelständischen Unternehmen, die sich nach wie vor in Familienbesitz befinden. Die BI veranstaltete Kundgebungen vor den Eingängen der Eisenwerke Böhmer und der Firma Pleiger. Außerdem veröffentlichte sie „schwarze Listen“ mit den Namen der Verweiger-Firmen, die von der Zwangarbeit profitiert hatten. Mehrere Firmen traten daraufhin dem Stifterfonds doch noch bei. 

Im Wittener Stadtarchiv trafen mittlerweile mehrere hundert Bitten ehemaliger ZwangsarbeiterInnen ein, ihnen ihre damalige Zwangsarbeit zu bestätigen. Sie benötigen die Bescheinigungen, um Geld aus dem Stifterfonds zu erhalten. Fast 250 Bescheinigungen konnten bislang nach Russland, in die Ukraine, nach Polen usw. geschickt werden. Die eigentliche Antragswelle wird noch erwartet.

Auch die historische Auseinandersetzung mit der NS-Zwangsarbeit ist inzwischen in Gang gekommen. Im März 2000 beschloss der Rat, sich für eine wissenschaftlich-historische Dokumentation der Zwangsarbeit in Witten und Herbede einzusetzen. Vermutlich Ende des nächsten Jahres wird sie vorliegen. Sie soll auch in den Wittener Schulen verwendet werden können. Erste Zwischenergebnisse wurden im November 2000 mit einer Ausstellung im Märkischen Museum präsentiert. Der Autor der Dokumentation, der Wittener Historiker Ralph Klein, hofft, dass „die Absicht von Regierung, Industrie und eines großen Teils der Öffentlichkeit, mit der zähneknirschenden Zahlung eines geringen Geldbetrags auch einen Schlussstrich unter die NS-Geschichte ziehen zu können, nicht aufgeht.“ Stattdessen will er weiterhin eine konsequente Auseinandersetzung mit Auschwitz und dem Nationalsozialismus.



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(c) MieterInnenverein Witten 10/2001.  Knut Unger